Polizeigewalt und Legitimation durch Falschmeldungen – eine Geschichte von Wiederholungen

Aktuell findet im Dannenroder Forst ein Polizei-Großeinsatz statt. Wir beobachten hier, wie auch schon bei früheren Großereignissen wie Gipfelprotesten, beim Castor oder bei den Räumungen des Hambacher Forst jede Menge Polizeigewalt. Dabei sehen wir nicht nur die Gewalt und Verachtung für Menschenleben, sondern vor allem auch die Lügen der Polizei, die das vertuschen sollen (heute heißt es wahrscheinlich alternative Fakten verbreiten) – und weite Teile der Presse, die unhinterfragt wieder und wieder polizeiliche Falschmeldungen abdrucken.

Ein paar aktuelle Fälle aus dem Danni

Abgesperrte Zone nach dem Sturz am 15. November.

Am 15. November machten Aktivistis öffentlich, dass die Polizei einen Sturz einer Person aus über drei Meter Höhe verursacht hatte.
Die Person befand sich auf einer hängenden Plattform in einem Tripod. Das Seil, an dem die Plattform hing, war über eine Umlenkung gespannt. Dieses Seil hatten die Polizist:innen einfach durchtrennt. Fotos zeigen die herabhängende Plattform und Polizei-Sanitäter:innen und Polizist:innen am Boden.

 

Nach dem Sturz am 15. November haben Aktivistis Fotos der herabhängenden Plattform veröffentlicht.

Anstelle eines Innehaltens leugnet die Polizei MH nach dem Sturz am 15. November sofort ihre Schuld – und wünscht im nächsten Atemzug der verletzten Person „eine gute Besserung“. Ist das Ironie? Zynismus?

In einem darauf veröffentlichen Statement der Polizei Mittelhessen wird behauptet, es hätte „keinerlei Einwirkung durch Polizeibeamte gegeben“. Begründet wird ihre Darstellung damit, dass die Polizist*innen 20m entfernt gewesen wären. Dabei beinhaltet der Vorwurf der anwesenden Aktivistis ja gerade, dass das Sicherungsseil in einiger Entfernung durchgeschnitten wurde. Von der Presse werden diese Widersprüche nicht hinterfragt, Spiegel und FAZ übernehmen via dpa die völlig unplausible Meldung der Polizei kurz nach der Veröffentlichung.

 

Einen Tag später wird klar: Es hat doch ein Polizist das Seil durchgeschnitten. Statt einer Entschuldigung oder Überprüfung der Einsatztaktiken folgt ein weiterer Zynismus, in dem die Polizei behauptet: „Zur Verhinderung von [Gefahren für Leib und Leben] für sämtliche im Wald anwesende Personen durchtrennte der Beamte daher das Seil.“ – eigentlich sollte die Polizei in der mehrere Wochen andauernden Räumung mittlerweile begriffen haben, dass Seile oft der Sicherung dienen und es keinesfalls ratsam ist, Seile durchzuschneiden, ohne die Funktion vorher gründlich zu überprüfen. Dass die Pressemitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft gemeinsam verfasst wurde, unterstreicht, wie „unabhängig“ die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Noch am gleichen Tag des Schuldeingeständnis zeigt die Polizei erneut, wie wenig ernst sie die Gesundheit der Aktivistis nimmt und gefährdet das Leben eines Menschen. Die Polizist:innen fällen einen Baum, in welchem eine Traverse (Querverbindung) zwischen anderen Bäumen hing. In dieser Traverse hing ein Mensch.

Das Monopod, auf dem sich noch eine Person befand, wäre am 14. November fast gestürzt, als die Polizei ein Befestigungsseil kappte.

Am 14. November haben Aktivistis Fotos veröffentlicht, die eine Person auf einem halb umgestürzten Monopod in etwas sechs Meter Höhe zeigen. Das Monopod hängt sehr schief an den verbleibenden Seilen. Die Polizei steht daneben. Es existiert außerdem ein Video, dass das von der Polizei gekappte, mit einem Warnschild versehene Drahtseil zeigt. Die Polizei reagiert darauf mit der Behauptung, dass sie „das Monopod in dieser Schieflage vorgefunden“ hätte.

 

 

 

 

Ausschnitt aus dem Video, das die durchtrennte Befestigung des Monopods zeigt.

Das Video zeigt auch, dass sich an dem Stahlsseil, das die Polzei durchschnitt, ein Warnhinweis befand.

Die Polizei will nicht nur nichts mit dem Sturz des Monopods zu tun gehabt haben, sonden hat angeblich auch noch sofort „Hilfe beim sicheren Verlassen des Monopods angeboten“. Frei nach Trump – je abwegiger, desto besser die Erzählung?

FALSCHMELDUNG in den Osthessen News. Tatsächlich wurde die Person mit einem Schlagstock bewusstlos geprügelt.

Am 11. November tauchte in Medienberichten die Meldung auf, dass ein Aktivist versucht hätte, auf einen Bagger zu klettern, dabei abgerutscht sei und sich am Kopf verletzt hätte. Offensichtlich bezieht sich die Meldung auf Polizeiangaben. Als der betroffene Aktivist später aus dem Krankenhaus und Polizeigewahrsam entlassen wurde, stellte sich heraus, dass er mit einem Schlagstock bewusstlos geprügelt worden war.

Dazu ein Zitat aus dem Pressebericht:

„Zur Mittagszeit kam es dann zu einem tragischen Zwischenfalls am Niederkleiner Pfad: Dort versuchten acht Personen eine Baumaschine zu besetzten – einer von ihnen rutsche dabei ab und verletzte sich schwer. Die Personengruppe hatte mehrfach versucht, die Baumaschine vehement zu besetzten. Dabei sei der Aktivist abgerutscht und mit dem Kopf dagegen gestoßen. Mit einer Trage wurde der Autobahngegner von Polizisten auf dem Wald getragen.“

Im Gegensatz dazu erzählt die betroffene Person in einem Interview, dass ein Polizist vollkommen unerwartet in der Nähe des Baggers mit dem Schlagstock auf ihn eingeschlagen hatte. Während er noch benommen und ausgekühlt auf dem Boden lag und der Rettungswagen noch nicht eingetroffen war, versuchten die Polizist:innen, seine Fingerabdrücke zu nehmen und bedrohten ihn. Das Interview könnt ihr euch hier anhören.

Die Polizei veröffentlicht später in einer Pressemeldung zum angeblichen Sturz vom Bagger, dass „ein Schlagstockeinsatz notwendig war. Ein Autobahngegner verletzte sich [sic!] dabei nach derzeitigem Kenntnisstand am Kopf.“ Zu diesem Zeitpunkt ist die erste Falschmeldung aber bereits im Umlauf.

Auch wenn die Angaben später korrigiert werden, bleibt in der Öffentlichkeit nach der Berichterstattung fast immer der erste Eindruck: Die Aktivistis seien selbst schuld, wenn sie sich verletzt haben, ob beim Abrutschen oder beim angeblich eigenverantworteten Sturz vom Tripod.
Selbst wenn – wie im Fall des gekappten Seils am Tripod in vielen Artikeln – an zweiter Stelle die Kritik der Aktivist:innen erwähnt wird, reicht das nicht. Meist erzeugt es nur den Eindruck, die Aktivist*innen würden eben notorisch alles etwas anders sehen. Das ist selbstverständlich Quatsch, denn auch wenn zwischen Polizist*innen und Demonstrant*innen Welten stehen, ist ein gekapptes Seil keine Ansichtssache.

Leider nichts neues

Ähnliche Fälle gibt es seit Jahrzehnten. Ob beim G8-Gipfel 2007 behauptet wurde, es wäre Säure in den Wasserpistolen der Rebel Clowns Army, weil sich der Einsatz von Pfefferspray gegen den Wind als unklug erwiesen hatte, oder beim G20 angeblich Gehwegplatten oder Molotow-Cocktails auf Polizei geflogen seien, dass die Polizistis bei der Welcome-to-Hell-Demo angegriffen worden wären, bevor sie die Demo sprengten – all diese Meldungen wurden in den nächsten Tage abgedruckt, obwohl sie sich sämtlich als falsch herausstellten. Trotzdem wirken die ersten Meldungen noch Jahre nach, beispielsweise wenn der Clowns Army Wasserpistolen verboten werden sollen.

Auch bei den Räumungen im Hambacher Forst wurde unterstellt, die Aktivist*innen hätten Handgranaten in Barrikaden verbaut oder sie absichtlich in die Nähe gelegt oder Sprengstoff eingesetzt. Es handelte sich dabei um Weltkriegsmunition, die zufällig gefunden worden war. Ein ganzes Tunnelsystem wurde erfunden. Das gezeigte Waffenarsenal, was angeblich direkt vor der Großräumung gefunden wurde, war aus mehr als sechs Jahren Waldbesetzung zusammengeklaubt. Dass dagegen Aktivistis mit Schmerzgriffen statt Tragen geräumt wurden, dass dabei das ein oder andere Körperteil gebrochen wurde und eine Person mit einer Holzlatte von der Bereitschaftspolizei verprügelt wurde, fand dem gegenüber wenig Aufmerksamkeit. Berichte zur Polizeigewalt findet ihr unter anderem hier.

Als 2018 bei der Großräumung des Hambis ein Mensch starb, verbreitete der Innenminister Reul Falschmeldungen zu seinem Tod und behauptetet, die Aktivist_innen hätten hämische Bemerkungen dazu gemacht. Am ersten Jahrestag des Todes resümieren seine Eltern:

„Auch die Behauptung staatlicher Stellen, es habe in der Nähe des Unfallortes keinen Polizeieinsatz gegeben, entpuppte sich als unwahr. Als die ersten Angehörigen die Unglücksstelle besuchen wollten, war die Räumung, nur fünf Tage nach Steffens Tod, wieder aufgenommen worden. Wir wurden unter Begleitung sehr freundlicher und rücksichtsvoller Kontaktbeamt*innen und Waldbewohner*innen zur Unglücksstelle gebracht. Durch das große Polizeiaufgebot, die Kampfausrüstung der Polizist*innen, die schweren zum Teil gepanzerten Räumungsfahrzeuge, die SEK-Einheiten, die Schreie aus den Räumungsgebieten in der Nähe kamen wir uns vor wie in einem Kriegsgebiet. Das hat den Besuch sehr belastet, unsere Trauer massiv gestört und vor allem uns, Steffens Eltern, zutiefst schockiert.“

Ein paar weitere Beispiele von polizeilichen Falschmeldungen im Kontext von linken Protesten finden sich hier und wir könnten diese Aufzählungen fast beliebig fortsetzen (dass es uns keine Mühe kostet all dies rauszusuchen ist leider auch schon eine Aussage über die Häufigkeit und Austauschbarkeit der konkreten Anlässe).

Warum die Falschmeldungen?

Gerade wenn Einsätze gesellschaftlich diskutiert werden, ist es für die Akzeptanz der Polizei immer auch entscheidend, ob die breite Bevölkerung noch hinter dem Einsatz steht. Wenn wie im Hambacher Forst Familien und Großeltern anfangen Barrikaden zu bauen und die Polizistis zu beschimpfen, ist deutlich was falsch gelaufen – und weitere Einsätze dort werden schwieriger zu rechtfertigen. Deshalb ist es entscheidend für die Polizei, sich selbst gut und die Aktivist*innen schlecht, also unverantwortlich, sich selbst gefährdend und gewalttätig darzustellen. Denn Straftäter*innen haben dem öffentlichen Empfinden nach oft einfach keine Rechte. Nach der Meinung vieler verdienen sie es sogar, auch mal verprügelt zu werden (was noch ein weiterführendes Problem ist). Die professionalisierten Medienabteilungen der Polizei wissen, dass es dabei auf den ersten, sich festsetzenden Eindruck ankommt. Wahrheit ist dabei schlicht und einfach nicht entscheidend, denn ob eine Meldung hinterher korrigiert werden muss, interessiert fast niemand mehr. Die Polizei macht außerdem die Erfahrung, dass sie von Journalistis als seriöse Quelle wahrgenommen wird (vermutlich weil sie eine Quelle sind, auf die Journalistis auch angewiesen sind) und nutzt dies.

Wenn die Darstellung von Aktivist:innen und Polizei voneinander abweichen, meinen viele, die Wahrheit müsse irgendwo in der Mitte liegen. Der Gedanke ist nachvollziehbar – aber leider oft falsch. Und je mehr die Stories der Polizei von der Wahrheit abweichen, desto mehr leidet meist die Glaubwürdigkeit von Aktivist:innen. Das hat auch Auswirkungen auf die politische Bewegung, denn auch intern werden dann diejenigen, die als gewalttätig und unglaubwürdig dargestellt werden, mehr kritisiert und hinterfragt. Auch von Bündnispartner*innen, die selbst vielleicht weniger direkter Polizeigewalt ausgesetzt sind, wie NGOs (non governmental organisation) oder Bürger:innen-Initiativen. Diese Bündnispartner:innen stehen dann zwischen allen Stühlen: Sie haben auf der einen Seite grundsätzlich Vertrauen in Rechtsstaat und Polizei und werden vielleicht sogar aufgefordert sich von den anderen „gewalttätigen“ Aktivistis zu distanzieren – werden auf der anderen Seite aber darüber aufgeklärt, wie unverantwortlich und aggressiv die Polizei handelt. Interne Gespräche, in denen versucht wird die Situation zu klären, sind oft anstrengend. Für Menschen, die gerade von der Polizei verprügelt wurden, können diese Diskussionen retraumatisierende Effekte haben – es verletzt einfach, wenn die eigenen Erlebnisse von Menschen, von denen man sich Solidarität erhofft hatte, in Frage gestellt werden. Dies schüchtert ein, schreckt ab und kann auch Spaltungen befeuern. Alles im Sinne der Polizei.

Wie sollen wir damit umgehen?

Die Meldungen wirken unterschiedlich auf uns. Wir regen uns auf über die ganzen abweichenden Darstellungen, sind fassungslos und entgeistert oder einfach schon abgestumpft, im Großen und Ganzen aber recht hilflos. Es ändert etwas in uns, ob wir das das erste Mal oder bereits viele Male erleben, die Angst vor Polizeigewalt steigt und Vertrauen in Cops verlieren wir (wenn wir es hatten). Bei manchen wächst der Hass, bei anderen bleibt die Überzeugung, dass mit ähnlichen Mitteln zurückzuschlagen keine Legitimation hat und die Gewalt der Polizei auch für keinen Steinwurf als Legitimation herhalten darf.

Wir wissen genau (aus Erfahrungen und Studien zu rechtswidriger Polizeigewalt), dass Anzeigen gegen die Cops nichts bringen. Wir lehnen pauschales Presse-Bashing ab, wollen aber Journalistis auffordern, nicht nur unsere Versionen zu hinterfragen, sondern auch die der Cops, die sich schon so oft als falsch herausgestellt haben. Deshalb haben wir uns entschieden, zumindest diesen Text zu veröffentlichen. Denn wir sind uns trotz aller unterschiedlicher Gedanken einig darin, dass Aufklärung wichtig ist und etwas bringt.

Wir veröffentlichen dies auch, um zu betonen, dass es sich eben nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Dieses besteht vermutlich nicht nur im Bezug auf linken Protest (worüber wir schreiben können, weil wir dort Erfahrungen machen), sondern natürlich auch und vielleicht sogar noch stärker in Bezug auf diskriminierte Gruppen (zum Beispiel People of Color oder Obdachlose oder Menschen, denen zugeschrieben wird, sie seien geistig verwirrt, die deshalb häufiger von Cops erschossen werden).

Wir schließen deshalb: Wir haben ein Problem mit der Polizei. Schickt uns gern eure Gedanken und Anregungen zum Umgang damit!

Einige Menschen der TurboKlimaKampfGruppe aus Kiel (tkkg.noblogs.org)