Wir unterstützen den Aufruf (https://0310kiel.noblogs.org/aufruf/) zu Protesten gegen den Tag der deutschen Einheit am 03.10. Aber wir haben bei TKKG auch kontrovers über den Tag der deutschen Einheit und Mobilisierungen dagegen diskutiert. Wir wollen euch die unterschiedlichen Positionen zugänglich machen, damit ihr selbst entscheiden könnt, ob ihr zu den Protesten gegen den Tag kommt – und weil uns wichtig ist zu zeigen, wie vielfältig wir sind:
Meinung #1: „Der 3. Oktober ist ein Nationalfeiertag – gefeiert wird die deutsche Nation als Ganzes. So sind Bundeswehr, Verfassungsschutz, Atommüll-Endlager-Suchkommission und andere repressive Institutionen zu Gast auf der Festmeile. Nicht nur das die deutsche Vergangenheit keinen Grund zum Feiern bieten sollte und ein starkes Deutschland bei mir Gruselgefühle auslöst. Auch heute sterben weiterhin Menschen an den deutschen, heute europäisch verlagerten Grenzen und Mauern. Dieses Jahr sind bereits über 800 Menschen im Mittelmeer ertrunken und sie sterben unter deutscher Beteiligung. Weil Deutschland Waffen exportiert, die woanders zu Kriegen führen. Weil Deutschland am Dublin-Abkommen festhält, was mit dazu beiträgt, dass die südlicheren Staaten in Europa die Häfen schließen und Seenotrettung als strafbar erklären. Ich kann es nicht ertragen, wenn Menschen, die aus der DDR flohen und ein besseres Leben wollten und ihre Fluchthelfer*innen gefeiert werden und jetzt Menschen, die das gleiche wollen als Geflüchtete und Schlepper*innen eingesperrt werden. Diese Nation kann ich nicht feiern.“
Meinung 2: „Wir rufen alle auf, sich der Demo „Klassensolidarität statt Vaterland“ am 3.10.2019. anzuschließen, denn wir brauchen mehr grenzüberschreitende Solidarität, weniger Kapitalismus und weniger Grenzen.
An diesem Tag gehen wir auf die Straße gehen Feierlichkeiten, wie sie scheinheiliger nicht sein könnten. Deutschland feiert an diesem Tag die Wiedervereinigung vor 30 Jahren, den Mauerfall, sich selbst, die eigene Politik und gedenkt den Menschen aus der DDR, welche auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung ihr Leben an den tödlichen Mauergrenzen der DDR verloren haben. Das alles tut Deutschland, während an den europäischen Außengrenzen jeden Tag Menschen sterben. Jeden Tag werden Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertränkt, ihnen wird beim Sterben zugesehen und Deutschland finanziert diese Grenzen mit, schaut zu, wie Italien, Malta und Co ihre Häfen versperren, zivile Seenotrettung kriminalisieren – all das im Gedenken an die innerdeutschen Grenztoten.
An dem Tag wird die befreite Gesellschaft gefeiert, demokratische Grundrechte werden in den Himmel gelobt und die Überwachung durch StaSi & Co verdammt – all das in dem Jahr, in dem die Repressions – und Überwachungsorgane des Staates so weitreichende Befugnisse haben wie noch nie seit dem Mauerfall.
Wir feiern am diesem Tag das Ende einer Diktatur, die Befreiung von Menschen und den Gewinn von demokratischen Grundrechten für Millionen von Menschen, aber mit Sicherheit nicht die deutsche von Neoliberalismus und Neokolonialismus geprägte Politik. Deutschland macht sich an jedem Tag an dem Zerfall der Menschenrechte im Mittelmeer, der gravierenden Armut in Entwicklungsländern, der Anfeuerung des Klimawandels und der Entstehung von Kriegen mitschuldig und profitiert davon. Wir werden diese Welt nicht zu einer sozial und ökologisch gerechten Welt verändern, wenn wir nicht Kapitalismus und Staatsgrenzen hinter uns lassen.
Wir solidarisieren uns mit allen, die für eine befreite Gesellschaft ohne Staatsgrenzen, mit gleichen Rechten für Alle, gefüllt mit Solidarität und Menschlichkeit kämpfen. Wir begrüßen jede gefallene Grenze, jeden gefallenen Zaun und jeden Akt der Solidarität.“
Meinung #3: „Ich erinnere den ersten Feiertag 1989 (oder war es 1 Jahr später)als ganz entsetzlich. Alle waren wie im Wahn. Es ging schon wieder um Autos. Die Menschen aus Ostdeutschland waren geil darauf endlich ein Westauto zu erwerben. Es hat mich zutiefst frustriert, das dieses Scheißteil für diese Menschen ausgerechnet Freiheit bedeutete. Ist übrigens nicht viel anders als heute, wo das Knast-Teil IT für viele Menschen mit Freiheit assoziiert wird, dabei führt IT zum Gegenteil davon.
Es war für mich unerträglich, wie Schäuble, damals schon als Kanzleramtsminister an den Hebeln der Macht, die Annexions-Verhandlungen führte. Er und Kohl und Breuel (Treuhand) fielen nach Ostdeutschland ein. Es erfolgte die feindliche Übernahme. Der erste Treuhand-Chef Rohwedder wurde von der RAF liqidiert. Auch auf Schäuble gab es kurz nach der Annexion ein Attentat, das er aber überlebte. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. An Geschichtsschreibung Interessierte schoben das Attentat einer vermeintlich psychisch kranken Frau in die Schuhe, so wie es in solchen Fällen üblich ist. Die Machenschaften der Treuhand muß ich hier nicht erneut schildern. Die Programme von ARD, ZDF, arte, phoenix und Deutschlandfunk quellen über in den letzten Monaten vor Dokus zu diesem Thema. Wer sich über die Umstände der sogenannten „Wiedervereinigung“ informieren wollte, hatte dazu ausreichend Gelegenheit.
Und noch was familiäres, weil doch vermeintlich so viele Menschen menschlich von der WV profitiert hätten: Ich sehe das nicht. Ich schaue auf meine eigene Familie, meine Mutter, die in der DDR Abitur machte und Lehrerin werden wollte dort und Kommunistin war und ist. Sie wurde von ihrer Familie gezwungen, nach Westdeutschland umzuziehen. Sie hatte hier nur Nachteile. Ihr Abitur wurde nicht anerkannt, sie konnte nicht studieren. Sie lernte meinen Vater kennen, der aus einer Nazi-Familie stammte. Dessen Eltern beschimpften sie als Flüchtling aus Ostpreussen, der gefälligst wieder abhauen sollte. Die Menschen aus den Ostgebieten waren für Nazi-Westdeutschland die personifizierte
Kriegsschuld, die nun auch noch, wie die Flüchtlinge heute, ihr Recht auf Wohnung teilen und zur Verfügung stellen einforderte. Ich bin in Bremen auf eine Schule gegangen, deren Lehrkörper von Nazis nur so durchsetzt war.Meine Mutter sagte immer, daß sie in ihrer Zeit in der DDR (Schulzeit und Abitur) als Flüchtling viel besser anerkannt und integriert war als in Westdeutschland. Ich weiß also absolut nicht, was es an diesem Tag zu feiern gibt. Er sollte in einen offiziellen Trauertag umbenannt werden.“
Meinung #4: „Wir sollen die Wiedervereinigung feiern – doch Wiedervereinigung klingt nach Vereinigung von Gleichberechtigten? Schauen wir uns nur mal an, was in unserem Kopf angeht, wenn wir an DDR und BRD denken. Im Westen aufgewachsen mit entsprechendem Geschichtsunterricht, denke ich bei DDR an Stasi, an Mauertote. Bei der BRD an Wiederaufbau, an Aufarbeitung der Nazi-Zeit nach Protesten 68, an normalen Alltag, Freiheit, Bürgerrechte. Erst nach langer Beschäftigung mit linker Geschichte auch an Parteiverbot, Berufsverbote, Notstandsgesetzte, Kill-Fahndung. Und bei der DDR vielleicht auch an soziale Rechte, Gleichberechtigung, aber auch an die Unterdrückung von Antifaschist*innen. Und bei der sogenannten Wiedervereinigung an die Zerschlagung der Industrie im Osten durch die Treuhand – eben weil Privatisierung über alles ging.
Was lernen wir eigentlich? Wer bestimmt wie wir was wahrnehmen? Die Sieger schreiben die Geschichte.
Ich bin gegen jede Repression, gegen jeden Staat. Aber natürlich genieße ich auch meine bürgerlichen Freiheiten, aber diese zu erhalten und weitere zu gewinnen werden wir nicht schaffen, wenn wir blind die Nation feieren, die gerade diese immer weiter einschränkt (z.B. durch die Möglichkeit Leute ohne Verbrechen präventiv für immer einzusperren – ein Merkmal einer Diktatur). Eben weil ich keiner Diktatur leben will (und auch die DDR nicht zurück haben will), protestiere ich gegen die Feierlichkeiten.“
Meinung #5: „Ich habe keine besonders starke Meinung zum Deutschlandtag. Es ist für mich selbstverständlich gegen Nationalismus und all die Grenzen, die damit zwangsläufig zusammen hängen, zu protestieren. Aber dazu haben andere hier schon recht viel geschrieben. Mir war es aber trotzdem sehr wichtig den Aufruf als Klimagruppe zu unterstützen. Ich finde es wichtig sich mit den Kämpfen von anderen emanzipatorischen Gruppen zu solidarisieren und zu schauen, wo sich unsere Kämpfe überschneiden und verbinden lassen. (Hier eine kleine Leseempfehlung dazu „Warum Klimawandel kein Ökothema ist“: https://black-mosquito.org/de/kampfe-zusammen-fuhren-warum-klimawandel-kein-okothema-ist.html) Eine solidarische, freie Gesellschaft erreichen wir nur gemeinsam und nicht, indem alle nur auf ihre kleine Nische gucken. Zwischen Klimagerechtigkeit und Deutschlandtag lassen sich viele Verbindungen ziehen: Der Klimawandel sorgt in ärmeren Ländern dafür, dass Menschen durch Extrem-Wetterereignisse fliehen müssen – nur um an den deutschen und europäischen Grenzen wieder aufgehalten zu werden. Und auch der Deutschlandtag bietet den Regierenden eine Möglichkeit sich für die eigene „Nachhaltigkeit“ zu feiern, während sie gleichzeitig klimapolitische Maßnahmen ausbremsen und der Auto- und Kohlelobby den Arsch pempern. Grund genug also, dass auch ich als Klimaaktivistin mich an den Protesten am Deutschlandtag beteilige.“
Schlussbemerkung: Leider haben nicht alle, die an der Diskussion beteiligt waren, die Zeit gefunden einen Text zu schreiben. Dadurch sind einige der Meinungen, die den Protesten am Deutschlandtag besonders kritisch gegenüber standen, hier leider nicht vertreten. Ich hoffe, dass diese irgendwann die nächsten Wochen an dieser Stelle noch ergänzt werden.